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Jede Fussballweltmeisterschaft bringt eine Menge Fragen und Überlegungen mit sich, seien sie wirtschaftlicher, ökologischer oder allgemeiner ethischer Natur: Welchen Sinn hat das alles? Welchen Sinn hat dieser Rausch, diese Welle der Begeisterung, die die Mengen ergreift und Erinnerungen an bestimmte Ereignisse der Massenhysterie wachruft, wie sie der Schweizer Schriftsteller Denis de Rougemont aus den dunklen Stunden der deutschen Geschichte berichtet? ¹
Bereits 1976 schrieb der Franzose Gustave Thibon: „Der Sport ist eine Religion, die zu viele Gläubige und nicht genug Praktizierende hat“, und prangerte den in unserer Gesellschaft etablierten „Kult“ betreffend Sportler, diese völkerverbindenden Fussball-„Messen“ oder ebenso den vermeintlichen Wert eines „Wunders“ an, welchen man der Fitness für die Gesundheit beimisst. Er schloss mit den Worten: „Wir sollten ihm seinen Platz zuweisen, d.h. ihm etwas weniger Bedeutung in unserer Vorstellung und etwas mehr Realität in unserem täglichen Leben geben“, und forderte dazu auf, Sport mehr selbst zu betreiben als an ihn als allmächtige Gottheit zu glauben. ²
Dennoch ist Sport in der einen oder anderen Form seit der Antike in unserem Leben präsent und wird immer mit Wettbewerb in Verbindung gebracht. Es ist bekannt, dass er bereits im dritten Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien und Ägypten ausgeübt wurde lange vor den berühmten Olympischen Spielen, die fast tausend Jahre lang alle vier Jahre bis zu fünfzigtausend Zuschauer anzogen. Die Sieger erhielten zwar bloss einen symbolischen Olivenkranz, aber ihr Ruhm strahlte auch auf ihre Stadt aus. Bei den Römern waren es neben den berühmten Gladiatoren vor allem die Wagenrennen, die das Publikum begeisterten und um die sich ein ganzer wirtschaftlicher Markt drehte, von Tierärzten und Trainern bis hin zu Wettanbietern.
Bereits damals wurden Stimmen laut, die diese Leidenschaften der Massen in Frage stellten. Der Schriftsteller Plinius der Jüngere schrieb bereits im ersten Jahrhundert: „Umso mehr wundere ich mich, dass so viele tausend Männer immer wieder so kindisch die laufenden Pferde und die auf den Wagen stehenden Menschen zu sehen wünschen. Wenn sie dennoch entweder durch die Schnelligkeit der Pferde, oder durch die Kunstfertigkeit der Menschen begeistert würden, wäre es einigermassen vernünftig. Dann favorisieren sie das Tuch und lieben das Tuch, und wenn beim Lauf selbst und mitten im Wettkampf diese Farbe dorthin, und jene hierhin überbracht werden sollte, werden der Eifer und die Gunst wechseln, und sie werden plötzlich jene Wagenlenker und jene Pferde, die sie aus der Ferne erkennen und deren Namen sie rufen, aufgeben. ... wenn ich mich aber erinnere, dass diese bei einer leeren und geistlosen Sache so unersättlich müssig dasitzen, empfinde ich irgendein Vergnügen, weil ich durch dieses Vergnügen nicht gefesselt werden.“ ³
Heutzutage nehmen Sportwettkämpfe, die vor allem seit der Erfindung des Fernsehers in den Medien ausführlich behandelt werden, globale Ausmasse an. Gleichzeitig schleicht sich der Wettbewerbsgeist überall ein, von Facebook-Likes bis hin zur Arbeitswelt, was manchmal durch ein begrenztes Verständnis von Darwins Schriften gerechtfertigt wird, die auf das Recht des Stärkeren reduziert werden. ⁴
Wenn man auf den Sport selbst zurückkommt, werden ihm heute alle möglichen Tugenden zugeschrieben: Er fördert die geistige Entwicklung (das berühmte Sprichwort mens sana in corpore sano), er ist gleichbedeutend mit einem sozialen Aufstieg, er trägt zum Lernen bei, er entwickelt einen Sinn für Kooperation und gegenseitige Hilfe und hält verschiedene Übel unserer Zivilisation fern, indem er eine gute Gesundheit gewährleistet.
Doch abgesehen von allen diesen Aspekten, ist es nicht einfach der Spielgeist, der uns zum Sport zieht? Und die Zuschauer werden emotional, sobald dieser Aspekt in einem Spiel hervorgehoben wird. Eine Niederlage im Elfmeterschiessen gegen Argentinien ist nicht schlimm, wenn man es geschafft hat sich zu motivieren und so zu spielen, dass es zwei zu zwei steht. In seiner Fibel der Mehrdeutigkeit erinnert uns Albert Jacquard daran, dass der Ursprung des Wortes „Sport“ das altfranzösische Wort „desport“ ist, das „Unterhaltung“ bedeutete. „Ja“, schreibt er, „es geht darum, mich zu amüsieren, das Bewusstsein, das ich von der Funktionsweise meines Körpers habe zu nutzen, um darüber zu jubeln, um aus ihm mehr herauszuholen als er geben wollte.“ Und weiter unten erwähnt er eine Anekdote: „Ich weiss nicht, welches afrikanische Volk sich für Fussball begeistert, aber es hat eine kleine Änderung an den Spielregeln vorgenommen: Wenn ein Spieler von Mannschaft A ein Tor gegen Mannschaft B schiesst, geht er sofort zu Mannschaft B und spielt dort, im Austausch gegen ein Mitglied dieser Mannschaft. Dadurch wird das Interesse an der Show verlängert. In der heutigen Atmosphäre unserer Gesellschaften erscheint ein solches Verhalten absurd; mit dem Wort Sport verbinden wir spontan das Wort Wettbewerb. Klüger wäre es jedoch, das Wort ‚Zusammensein‘ zu verwenden. [...] In der Natur ist Wettbewerb keineswegs eine notwendige Haltung.“ ⁵
Somit finden wir unsere Kinderseele wieder, wenn wir ein Fussballspiel, welches auch immer, oder die Kunststücke einer jungen Eiskunstläuferin oder eines Teenagers beim Training vom Sprungbrett beobachten. Manchmal mit einem etwas schuldbewussten Gefühl: Ist es normal, diese ganz einfache oder etwas kindliche Freude zu empfinden oder ist das ein Rückschritt? Ganz im Gegenteil. Wenn man sich ein Spiel ansieht, sieht man dann nicht vereinfacht einen Spiegel dessen, was das Leben ist - wie man das Leben betrachten sollte? Und ist die Spielfreude, die Fähigkeit zu spielen, nicht eine grundlegende Fähigkeit des Seins?
Der amerikanische Philosoph L. Ron Hubbard schreibt: „Das Leben kann am besten verstanden werden, wenn man es mit einem Spiel vergleicht. Da wir bei einer grossen Anzahl von Spielen ausserhalb stehen, können wir sie von einem unbeteiligten Standpunkt aus betrachten. Würden wir ausserhalb des Lebens stehen, anstatt darin verwickelt und versunken zu sein, es zu leben, würde es uns genauso erscheinen, wie uns Spiele aus unserem gegenwärtigen Blickwinkel erscheinen. Trotz der Menge an Leiden, Schmerz, Elend, Kummer und Seelenqual, die es im Leben geben kann, ist der Grund für das Dasein derselbe, wie wenn man ein Spiel spielen muss – Interesse, Wettstreit, Aktivität und Besitz. [...] Das Leben ist ein Spiel. Ein Spiel besteht aus Freiheit, Barrieren und Zielsetzungen.
Das ist eine wissenschaftliche Tatsache, nicht nur eine Beobachtung. Freiheit existiert inmitten von Barrieren. Gibt es ausschliesslich Barrieren oder ausschliesslich Freiheit, dann hat man in gleicher Weise ‚Kein-Spiel- Zustände‘. Beides ist gleichermassen grausam. Beides ist gleichermassen ziellos.“ ⁶ Eine neue Art, die Verbindung zwischen Sport und unserem Leben zu betrachten.
¹ Denis de Rougemont (1906-1985) war Zeuge einer Nazi-Versammlung in Nürnberg zu Ehren Hitlers. Allein inmitten einer hysterischen Menschenmenge verspürte er ein starkes Gefühl des Unbehagens und schrieb, er habe gespürt, wie sich ihm buchstäblich die Haare auf dem Kopf sträubten und sich sein ganzes Wesen, seine ganze Persönlichkeit dagegen wehrte. │ ² Gustave Thibon (1903-2001), französischer Schriftsteller und Philosoph, in L’Équilibre et l’Harmonie, 1976. │ ³ Plinius der Jüngere (gegen 61-115), Briefe, IX, 6, Übersetzung von kreienbuehl.ch │ ⁴ Die Autorin denkt hier an eine ausgezeichnete Ausstellung im Römischen Museum Lausanne- Vidy im Jahr 2019 mit dem Titel „Möge der Beste gewinnen!“, welche eine sehr interessante Verbindung zwischen der Welt des Sports und der Rivalität in unserer heutigen Welt herstellte. │ ⁵ Albert Jacquard, französischer Biologe und Philosoph (1925-2012), Abécédaire de l’ambiguïté de Z à A: des mots, des choses et des concepts, Seuil, 1989. │ ⁶ L. Ron Hubbard, Eine neue Sicht des Lebens, Los Angeles, Ausgabe 2007, Seiten 99-100.