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Das Bankgeheimnis war während vieler Jahre einer der Pfeiler der Schweizer Wirtschaft und wurde zu einem vollumfänglichen Bestandteil der Schweizer Identität. Trotz der Schattenseiten und Kontroversen um seine Existenz wurde diese Finanzpraxis lange Zeit von einer grossen Mehrheit der Schweizer Bevölkerung unter- stützt, da sie darin einen Garanten für die wirtschaftliche Stabilität der Nation im Konzert der Grossmächte sah. Die Geschichte dieser ganz und gar schweizerischen Institution ist Gold wert. Die Frage des Bankgeheimnisses hatte nämlich während des gesamten 20. Jahrhunderts einen erheblichen Einfluss auf die Innen- und Aussenpolitik der Eidgenossenschaft.
Lange Zeit gingen viele Kommentatoren davon aus, dass das Bankgeheimnis 1934 eingeführt worden war, um den Opfern - hauptsächlich Juden - der damals in Deutschland gerade einsetzenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu helfen. Philippe de Weck, ein ehemaliger Präsident der UBS, vertrat diese These unter anderem in einem 1992 erschienenen Sachbuch. Die berühmte britische Wochenzeitung The Economist tat dies in einem am 17. Februar 1996 veröffentlichten Artikel ebenfalls. Problem: Es handelt sich um eine Legende. Die Realität sieht, wie wir heute wissen, ganz anders aus.
Die Praxis der Geheimhaltung war in der Tat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts tief im helvetischen Bankgeschäft verankert. Ihre Bedeutung wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert noch verstärkt. Zu dieser Zeit erhöhten viele europäische Staaten den Steuerdruck auf wohlhabende Schichten, die einen sicheren Hafen suchten, um der Besteuerung zu entgehen. Der Historiker Sébastien Guex1 erklärt: « Die Schweizer Bankenkreise erkannten rasch, dass ihnen die steigenden Steuern in verschiedensten Ländern eine Spielkarte boten. Ausländisches Kapital in die Schweiz locken, das vor einem als zu gierig empfundenen Fiskus flüchten wollte ». In den Nachbarländern wurde eine massive Propaganda betrieben, die die Vorteile der Schweiz als Ort der Steuerflucht anpries.
Einige Jahre später führte der Erste Weltkrieg zu einem beispiellosen Kapitalzufluss in die helvetischen Banken, die ihre Geschäfte in Schwung brachten. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Schweiz zu einer Drehscheibe für ausländisches Kapital und entwickelte sich de facto zu einem internationalen Finanzplatz. Das Bankgeheimnis ist einer der Eckpfeiler des Systems, das errichtet wurde. Nach dem Krieg versuchten die Regierungen Frankreichs und Belgiens Druck auszuüben, um Informationen über ihre Staatsbürger zu erhalten, die ihr Vermögen in die Schweiz transferiert hatten. Aber ohne Erfolg. Die helvetischen Behörden unterstützen die Banken. Die frühen 1930er Jahre markierten einen Wendepunkt für das Schweizer Bankwesen. Der Sektor befand sich in einer der schwersten Krisen seiner Geschichte, die vor allem durch den Börsencrash in den USA 1929 ausgelöst wurde. Die grossen Schweizer Banken mussten vom Staat gerettet oder umstrukturiert werden. Bereits im Sommer 1931 stellte sich die Frage, ob ein Bankengesetz ausgearbeitet werden sollte, um die Tätigkeit der Banken zu regeln. Sozialisten, aber auch grosse Teile der Bauernschaft und der Mittelschicht drängten in diese Richtung.
Gleichzeitig nahmen Frankreich und Deutschland das Problem der Steuerhinterziehung erneut in Angriff. Im Herbst 1932 durchsuchten die französischen Behörden die Pariser Geschäftsräume der Basler Handelsbank. Es wurden Dokumente beschlagnahmt, die aufzeigten, dass die Schweizer Bank seit langem in grossem Stil und unter Missachtung der französischen Gesetze Steuervermeidung und -hinterziehung betrieb. Auch die Schweizer Banque d'Escompte und eine Genfer Privatbank wurden durchsucht. Der Fall hatte ein enormes Aufsehen erregt. Es ging um, für die damalige Zeit, horrende Beträge, die sich wahrscheinlich auf mindestens 400 Millionen Schweizer Franken beliefen. Vor allem wurden jedoch Namen bekannt. Man fand die Elite der französischen Gesellschaft: drei Senatoren, ein Dutzend Generäle, zwei Bischöfe, ehemalige Minister, Grossindustrielle wie die Familie Peugeot oder auch die Familie Coty, die unter anderem die einflussreiche Tageszeitung Le Figaro besass.
Die Schweizer Behörden schützten die helvetischen Bankinstitute, aber das lieferte Argumente für ein Rahmengesetz. Die Bankenkreise kapitulierten, jedoch nur unter zwei Bedingungen: Die Aufsicht muss funktional und nicht staatlich sein, und soll mit einer Stärkung des Bankgeheimnisses einhergehen. Diese Stärkung wurde vom nationalen Parlament fast diskussionslos akzeptiert, das am 8. November 1934 das Bundesgesetz über die Banken verabschiedete. In Artikel 47 des Gesetzes heisst es, dass eine Person, die « ein Geheimnis offenbart, das ihr anvertraut wurde oder von dem sie aufgrund ihres Amtes und ihrer Anstellung Kenntnis hat », mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden kann. Der Text gilt auch für Personen, die zum Zeitpunkt der Tat nicht mehr im Amt sind. Das Bankgeheimnis, das früher im Zivilrecht geregelt war, fällt nun unter das Strafrecht.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes von 1934 wurde die Schweiz zu dem wirtschaftlich entwickelten Land, in dem das Bankgeheimnis bei weitem am stärksten geschützt war. Bis 1970 erwies sich das Bankgeheimnis als eine nahezu uneinnehmbare Festung. Nach dem Zweiten Weltkrieg widerstand es dem Druck der Alliierten, die sich angesichts der helvetischen Kompromisse mit dem Dritten Reich seit 1933 in einer starken Position befanden. Durch Verzögerungstaktiken, die Gewährung von Krediten an Frankreich und England sowie die Hervorhebung des symbolischen Kapitals der Schweiz (Neutralität, Gute Dienste, Rotes Kreuz usw.) hielten die politischen und finanziellen Behörden der Schweiz stand. Den Alliierten wurden schlussendlich nur die Namen der deutschen Staatsangehörigen anvertraut. Bis 1990 behielt das Schweizer Bankgeheimnis im Grossen und Ganzen die "stillschweigende diplomatische Unterstützung der Vereinigten Staaten und der wichtigsten westeuropäischen Länder, die es vermieden, es ernsthaft anzugehen, um die Schweiz nicht zu verprellen, die zwar ein neutrales Land ist, sich aber im geografischen Zentrum des NATO-Systems befindet. Schliesslich profitiert es von einer gewissen, zumindest passiven Komplizenschaft der europäischen Politiker, die nicht ernsthaft versuchten, die Steuerflucht zu bekämpfen, der ihr Land zum Opfer fällt", betont der Wirtschaftsjournalist Yves Genier.
Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der UdSSR eröffneten jedoch neue Horizonte der Transparenz. Im Jahr 1995 brach die Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen aus. Die Banken mussten ihre Archive öffnen und die Namen der Inhaber von Konten veröffentlichen, die seit 1945 nachrichtenlos geblieben waren. 1998 sprechen sich die G8-Finanzminister für die Einführung eines internationalen Systems zum Austausch von Finanz- und Steuerinformationen zwischen Staaten aus. Zwei Jahre später veröffentlichte die OECD eine Liste von Steueroasen. Die Schweiz steht nicht auf der Liste, wird aber weiterhin überwacht. Die Banken hingegen scheinen unbeeindruckt. Das Jahrzehnt von 1990 bis 2008 war eines der erfolgreichsten in ihrer Geschichte. Im Jahr 2007 belief sich der Wert der von im Ausland ansässigen Personen gehaltenen Wertpapiere, die bei Schweizer Banken hinterlegt waren, laut den Statistiken der SNB (die nur eine Annäherung an die Realität darstellen) auf 3'123 Milliarden Franken.
Die Krise von 2008 war jedoch der Anfang vom Ende für den Schweizer Finanzplatz. Die USA führten den Angriff an. Am 18. Februar zwangen sie die UBS, 250 Namen an die US-Steuerbehörde zu liefern. Im August wird ein Abkommen geschlossen, das die Übermittlung von 4450 weiteren Namen vorsieht. Ein Donnerschlag in der Schweiz, die noch an die Unantastbarkeit ihres Bankgeheimnisses geglaubt hatte. Zumal die USA ihre Offensive fortsetzen: 14 weitere Banken, darunter die Credit Suisse, sind im Visier der amerikanischen Justiz. Alle geben unter dem Druck nach. Trotz einiger Versuche, einen Kompromiss zu finden, kapitulieren der Bundesrat und die helvetische Bankenlobby. Am 6. Juni 2014 unterzeichnet Bundesrat Johann Schneider-Ammann die Verpflichtung der Schweiz, sich an den OECD-Standard für den automatischen Informationsaustausch zu halten, der ab 2018 angewendet wird. Viele Beobachter betrachteten diese Entscheidung als den tatsächlichen « Tod » des Schweizer Bankgeheimnisses.
Am 30. Juni desselben Jahres tritt auch das FACTA-Abkommen in Kraft. Es verpflichtet die Schweizer Banken, dem US-Finanzministerium alle Konten zu melden, die von US -Bürgern gehalten werden. Mehrere Experten haben sich über die trübe Haltung der USA bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung gewundert. Washington ist schnell dabei, Missbräuche im Ausland anzuprangern, aber viel weniger, wenn es um den Kampf gegen seine eigenen Steuerparadiese (Florida, Delaware, Arizona und Colorado) geht. « Eine grosse Heuchelei, die dank des enormen Gewichts, das dieses Land auf den Rest der Welt ausübt, fortbesteht », stellt Yves Genier fest.
Ist das Bankgeheimnis in der Schweiz nun endgültig begraben? Für die europäischen und OECD-Länder ist dies im Grossen und Ganzen der Fall. Die Finanzämter kommunizieren untereinander und tauschen Informationen aus. Für Länder ausserhalb dieser Organisation in Afrika, Südamerika und Asien ist dies jedoch weniger der Fall. In diesen Regionen gibt es eine Klientel, die in internationalen Geschäften aktiv ist, die der Wirtschaftskriminalität (Korruption) ausgesetzt sind. Anfang 2019 war beispielsweise in einem Fall von Veruntreuung venezolanischer Gelder eine von acht Schweizer Banken involviert. Laut François Pilet, Gründer der Website Gotham City, einer Online-Zeitschrift, die sich mit Justizfällen befasst, die den Wirtschafts- und Finanzplatz Schweiz betreffen: « Die Schweiz bleibt also eine Drehscheibe, um Gelder krimineller Herkunft aus der ganzen Welt zu verstecken.»
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