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Im Frühjahr 1967 führte eine ungewöhnliche Kombination von Umständen dazu, dass Stalins Tochter, eine der berühmtesten Dissidenten des Kalten Krieges, inkognito in der Schweiz weilte. Sechs Wochen lang findet Svetlana Iossifowna Allilujewa unter dem falschen Namen Miss Carlen Zuflucht in der Schweiz, bevor sie schlussendlich von den Vereinigten Staaten als einfache Immigrantin aufgenommen wird. Am 10. März desselben Jahres stimmte der Bundesrat zu, Stalins Tochter, auf Ersuchen Washingtons, den Aufenthalt im Land zu gewähren, auf die Gefahr hin die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufs Spiel zu setzen.
Diese Geschichte, über viele Jahre weitgehend geheim gehalten, hat der Freiburger Journalist und Historiker Jean-Christophe Emmenegger 2018 in seinem Buch "Opération Svetlana" zum ersten Mal ausführlich beschrieben. "Operation Svetlana" ist der von den Schweizer Behörden verwendete Code für den Aufenthalt von Stalins Tochter in der Schweiz. Dieser Fall ist der besten Spionageromane würdig.
Er beginnt in Indien, wo Svetlana die Erlaubnis erhalten hatte hinzureisen, um die Asche ihres verstorbenen Mannes, Brajesh Singh, im Fluss Ganges zu verstreuen. Am 6. März 1967, im Alter von 41 Jahren, trifft die Tochter des „Vaters der Völker“, die nicht wie gewünscht in Indien verweilen darf, eine folgenschwere Entscheidung: Sie flieht aus der UdSSR. Sie geht zur US-Botschaft in Neu-Delhi, die sie weiter nach Rom schmuggelt. Dieser Überläufer kommt jedoch zu einem äusserst ungünstigen Zeitpunkt für die Vereinigten Staaten, die kurz vor der Ratifizierung eines Konsularabkommens mit der sowjetischen Regierung und gleichzeitig auch in Gesprächen über den Ver- tragsabschluss einer Nichtverbreitung von Atomwaffen stehen. Washington verweigert daher die sofortige Aufnahme der Dissidentin auf seinem Territorium. Danach werden mehrere Länder angeschrieben: Australien, Neuseeland, Südafrika... und schliesslich die Schweiz.
Nach einigem Zögern stimmt der Bundesrat zu, Svetlana ein dreimonatiges Touristenvisum zu erteilen, und schliesst mit den Vereinigten Staaten ein Geheimabkommen über ihre Zukunft ab. Wie Antonino Janner, Vermittlungsstelle der "Operation Svetlana" und rechte Hand von Bundesrat Willy Spühler, in seinem Geheimbericht über diesen Besuch zusammenfasst: "Die Vereinigten Staaten haben uns die Zusicherung gegeben - heimlich! - dass sie uns nach diesen drei Monaten von Svetlana befreien würden. Sollte die Resonanz in der öffentlichen Meinung und auf Seiten der UdSSR feindselig sein, würde sich das Problem nach drei Monaten von selbst lösen; wenn die Resonanz keine Einwände hervorruft und Svetlana wirklich in der Schweiz bleiben möchte, würde sich die Frage der Verlängerung des Touristenvisums nicht mehr stellen. Die Lösung ist daher in jeder Hinsicht elegant. Es ist nicht auszuschliessen, dass der Aufenthalt in der Schweiz nur dazu dient, die Sache für die Vereinigten Staaten ein wenig ruhen zu lassen, bis sie die Angelegenheit übernehmen..»
Am Morgen des 11. März 1967 landet das Sonderflugzeug, nach mehreren technischen und administrativen Schwierigkeiten, mit Svetlana in Genf. Sie wird vom Bundespolizeibeamten Gérard Cristina und Inspektor Marchesi auf dem Rollfeld "abgeholt". Aufgrund diplomatischer Vertraulichkeit wollen die Schweizer Behörden um jeden Preis den geringsten Kontakt von Stalins Tochter mit der schweizerischen und internationalen Presse vermeiden. Die italienische Polizei erschwert diese Restriktion erheblich mit der Bekanntgabe von Abflug- und die Ankunftszeit des Flu- ges von Stalins Tochter in Genf. Zum Glück können die Agenten, die sie aus dem Flughafen eskortieren, die Journalisten abwimmeln.
Gegen 10 Uhr trifft der Konvoi in Châtel-Saint-Denis im Kanton Freiburg ein. Im Hôtel des XIII Cantons findet eine Mittagspause statt. In den folgenden Stunden beschliesst das Bundeshaus, dass die Tochter Stalins, die in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht hat, im Hotel Jungfraublick in Beatenberg im Berner Oberland wohnen wird. Am späten Nachmittag hält der Konvoi in Wimmis in der Nähe des Thunersees, um Antonino Janner abzuholen, der mehr über die Absichten der Dissidentin erfahren möchte. "Svetlana vermittelt den Eindruck, eine intelligente Person zu sein, die weiss, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Ausserdem vermittelt sie den Eindruck, möglichst wenig Unannehmlichkeiten für uns verursachen zu wollen, und dass wir auf ihre Kooperation zählen können." "Sie ist eine charmante Person, oder besser gesagt, sie ist bis zu einem gewissen Grad ein sanftmütiger Mensch, und auf der anderen Seite hat sie einen starken Charakter", so der Beamte. "Ironischerweise wurde dieser selbst einmal in den 1970er Jahren registriert, weil er, für den Geschmack der Bundespolizei, etwas zu oft die Anlässe der Ostbotschaften besuchte", sagt Jean-Christophe Emmenegger.
Kurz nach 18 Uhr erreichen die Autos das Berner Oberland. In ihrem "Schweizer Tagebuch" beschreibt Svetlana ihre Eindrücke von diesem Ort: "Es ist kalt; (...) Vom Fenster meines kleinen Zimmers aus kann ich die Jungfrau sehen. Jedoch habe ich die Berge nie gemocht; sie bedrücken mich, ich bevorzuge die Ebene, die Weite, das Meer. (...) Auch die Gesichter um mich herum sind kalt. Im Speisesaal sendet das Radio während der Mittagspause die Nachrichten, unter anderem wird über meine Ankunft in der Schweiz berichtet; ich senke den Blick auf meinen Teller: meinen Namen inmitten der Sensationsmeldungen, das ist mir sehr unangenehm. "Der Bundesrat teilt der schweizerischen und ausländischen Presse mit, dass die Tochter Stalins "zur Erholung in die Schweiz reist und ihre Ruhe haben möchte. "Kein Journalist wird sie während ihres Aufenthalts in der Schweiz treffen können, und die von Bern absichtlich manipulierten Me- dien werden teilweise und oft falsch über die Ereignisse berichten.
Am 13. März trifft Svetlana abends den indischen Minister Rikhi Jaipal, der bereits am Nachmittag in Bern angekommen ist, in einer Villa in Oberhofen am Thunersee. Auch dieses Treffen findet wieder unter strengster Geheimhaltung statt. Der indische Gesandte will eine offizielle Bestätigung, dass Delhi Stalins Tochter nicht zur Flucht aus dem Land verholfen hat. Swetlana ihrerseits hofft, einen Brief an ihre beiden Kinder zu schicken, die in Moskau zurück geblieben sind. Am nächsten Tag wird der Aufenthalt der Dissidentin durch eine neue Episode unterbrochen: Der Blick verrät, dass sie sich in Beatenberg aufhält. Deshalb braucht sie einen neuen Zufluchtsort. Es wird ein katholisches Hospiz sein, das Altersheim der Klarissen in Saint-Antoine, im Kanton Freiburg. Svetlana, die fünf Jahre zuvor in einer russisch-orthodoxen Kirche getauft wurde, verbringt etwa drei Wochen in diesem Kloster, unter dem Schutz der Freiburger Polizei. Während Stalins Tochter unter Hausarrest steht, mit einem absoluten Verbot, über ihre Präsenz in der Schweiz oder ihre politischen Anschauungen zu sprechen, sorgt in den hohen Machtbereichen in Bern und Washington ein gut eingespieltes diplomatisches Bündnis für ihre Zukunft.
Vom 22. bis 27. März 1967 hält sich der berühmte Georges Kennan, ehemaliger US-Botschafter in der UdSSR, Leiter des Planungsstabs des Marshall-Plans zwischen 1947 und 1948 und heute pensionierter Diplomat, heimlich zwischen der Schweiz und Italien auf, um Svetlana bei ihrem Vorhaben zu helfen, ihre Memoiren (Twenty Letters to a Friend) zu veröffentlichen, aber auch gemeinsam mit ihr die Beantragung eines Visums für einen Transfer über den Atlantik zu besprechen. Stalins Tochter führt am 24. und 25. März sogar zwei Tage hintereinander Einzelgespräche mit Kennan in der Oberhofener Villa. Sie wird vom ehemaligen russisch sprechenden Diplomaten verführt. Was weder sie noch die Schweizer Behörden wissen, ist, dass Georges Kennan auf persönliches Ersuchen seines Freundes Donald Jameson, CIA-Experte für Russland, und unter der Aufsicht des US-Aussenministeriums handelt. 1947 hatte Kennan dem neuen Geheimdienst empfohlen, ausschliesslich mit sowjetischen Auswanderern und Deserteuren zusammenzuarbeiten, um der sowjetischen Spionage entgegenzuwirken.
Am 3. April wurde Stalins Tochter aus Angst, ihr Zufluchtsort könnte entdeckt werden, in ein neues Versteck gebracht: das Kloster la Visitation de Sainte-Marie in der Altstadt von Freiburg, wo die Dissidentin bis zum 20. April 1967, die wenigen ihr noch ver- bleibenden Wochen in der Schweiz verbringen wird. An den Ufern der Sarine trifft sie zweimal auf den fran- zösischen Widerstandskämpfer Emmanuel d'Astier de la Vigerie, den sie bereits einige Jahre zuvor in Moskau kennen gelernt hatte. Ihr Treffen findet im Haus der Familie Blancpain statt. Claude Blancpain ist mit Bertrande d'Astier, der Nichte von Emmanuel d'Astier, verheiratet. Emmanuel d'Astier, der eine gewisse Zuneigung zum Kommunismus hatte (für den er bereits in den 1950er Jahren in der Schweiz registriert wurde), ist eine der wenigen Privatpersonen, die Svetlana während ihres Aufenthalts in der Schweiz kennen lernen konnte. Er versuchte vergeblich, sie von einer Reise über den Atlantik abzubringen. Viele Jahre später wird Stalins Tochter bereuen, die Vereinigten Staaten als Exilland gewählt zu haben. Sie wird sogar versuchen, nach Europa zurückzukommen, leider ohne Erfolg.
Die Schweiz hat sich vorteilhaft aus dieser Affäre gezogen. Eine unangenehme Situation, die sich zu ihrem Vorteil gewendet hat und ihr somit die Möglichkeit gab, ihre vergängliche Rolle auf dem internationalen Schachbrett zu bestätigen.